Hartwig Reinboth

zur Ausstellung “ Schichtungen“ im Rathaus Bielefeld Sennestadt 2012

 

Die allgemeine Anmutung der Arbeiten von Magret Thimm, ihre unmittelbare Wirkung bevor man sich auf Einzelheiten einlässt, ist nach meinem Empfinden mit Helligkeit, Offenheit, Behutsamkeit und Leichtigkeit zu umreißen. Man betritt eine Bildwelt, die aus einer gewissen Zurückhaltung auf den Betrachter zukommt, die ihn eher anlockt als dass sie auf ihn zudrängt. Die Farben sind eher sanfte, harmonische Schwingungen als laute Klänge – auch wenn es natürlich zuweilen dunkle Farbzonen und auch intensive Farbakzente gibt.

Zugleich empfindet man überall ein Streben nach einer ungezwungenen Ordnung, die alles, was im Einzelnen heterogen, eigenwillig oder zufällig in Erscheinung tritt, in einen organischen, wie von selbst entstehenden Zusammenhang bringen will. Starre Verfestigung ist nicht das Wesen dieser Ordnung. Im Gegenteil: vielfach erscheint es so, als sei die im Bild erreichte Ordnung ein kurzer Schwebezustand, wo alles gerade am rechten Ort ist, aber auch erneut in einen Fluss geraten kann, der die Ordnung wieder auflöst und dann wieder anders entstehen lässt.

Das Fließende, das die Anmutung vieler Bilder von Magret Thimm bestimmt, rührt wohl von ihrer frühen Bevorzugung der Aquarellfarbe her, die sich bis in die neuesten Bilder noch auswirkt. Und auch die neueren Arbeiten auf Keilrahmen, die materieller wirken, treten nicht grundsätzlich in Widerspruch hierzu. Der eher helle, leichte Grundton bleibt erhalten.

Wenn man näher an die Einzelbilder herantritt, tritt dieser Ordnungsaspekt zunächst in den Hintergrund. Zu entdecken gibt es jetzt den Reichtum der malerischen Strukturen, der eingesetzten Materialien, der dadurch entstehenden Oberflächenreize und Farbnuancen. Immer gibt es mehr zu finden als eine eindeutige und einmalige Setzung. Immer ist ein „Darunter“ zu sehen, zu erspüren. Magret Thimm hat sich hier ein sehr breites Arsenal von Möglichkeiten erarbeitet: Aquarellfarbe, Acrylfarbe, Leim, Binder, Kleister, Marmorstaub, Sand, Kreiden und Stifte, Papiere, Fasern ……- alles kann mobilisiert werden, um eine möglichst erlebnishaltige Oberfläche zu erzeugen. Wohlgemerkt: eine Oberfläche mit Tiefenwirkung. Die ersten Arbeitsschichten versinken wie Sedimente unter der obersten Schicht, die wiederum aufgerieben, abgewaschen, aufgekratzt wird und das Darunterlie-gende erkennen oder erahnen lässt.

Oft erinnert dies an quasi natürliche Vorgänge des Verwittern, Abblätterns, Abwaschens, Abschrammens. So, als sei manches ganz von selbst entstanden. Die demgegenüber von der Künstlerin ganz gezielt eingesetzten Markierungen sind lineare Spuren, teils energisch, teils äußerst behutsam gezogen, die Flächen begrenzen, Richtungen anzeigen, dynamische Bewegungen vermitteln, eine Flächenordnung schaffen.

Hier treten also 2 unterschiedliche künstlerische Verhaltensweisen zusammen. Die eine könnte man durchaus alchimistisch nennen. Magret Thimm hat ihr „Geheimwissen“ über Ingredenzien, Mischungsverhältnisse, Wirkungszusammenhänge und Reaktionsweisen von Substanzen, Farben, Papiersorten im Laufe der Jahre zusammengetragen. Auf der Grundlage dieser Erfahrungen kann sie dem Zufall Raum lassen, ihre Methoden und Bild-vorstellungen experimentell erweitern, immer wieder neue Entdeckungen machen und diese ihrem alchimistischem Wissen hinzufügen. Sie kann sozusagen absichtslos beginnen und warten, bis sich im Prozess die Ahnung eines Bildes zeigt, eine Bildung, deren Entstehung weiter entwickelt und allmählich zur Form gebracht werden kann.

Die andere Verhaltensweise ist ursprünglicher und unmittelbarer: die Freude an der spontan gesetzten malerischen und graphischen Bewegungsspur. Das Urerlebnis ist hier das erste noch halbbewusst zu Papier gebrachte Linienbündel des Kindes, das dabei die prägende Erfahrung macht: das habe ich soeben hervorgebracht, das ist ein bleibendes Zeichen, das markiert: ich bin da. Dies Urerlebnis wirkt auch im elaboriertesten künstlerischen Vorgehen noch da.

Beide künstlerischen Verhaltensweisen – die entwickelnde Schichtung und die unmittelbare zeichnerische Geste – verbinden sich in den Bildschöpfungen von Magret Thimm in einem vielstufigen Prozess von Auftragen, Entfernen, Neuauftragen, Überlasieren, Abtupfen, Verstärken, Hervorheben, Überlagern, Abdämpfen und dann wieder deutlich Akzentuieren. Sie führen am Ende zu Ergebnissen, die trotz der experimentierenden Offenheit zu wohlkalkulierten und ausbalancierten Bildformen zusammenwachsen.

Experiment und Kontrolle des Experimentverlaufs – beides gehört zusammen, um das Bild zu gewinnen. Am Ende soll ja eine Ganzheit entstehen, die die Vielschichtigkeit zusammen-bindet. Dieses Zusammenbinden, Zusammenhalten wird durch die beruhigenden Rah-mungen betont, die entweder unmittelbar Teil des Bildes selbst sind oder durch die groß-zügigen Passepartouts gestellt werden. Die Künstlerin nennt dies die „notwendigen Ruhe-zonen“.

Die ästhetischen Ereignisse und die bildnerischen Verhaltensweisen sind zugleich Lebens-zeichen und Lebensreflexionen. Jede grafische Spur ist unmittelbar ein Lebenszeichen – ähnlich der EKG-Kurve unseres Herzschlags, und jede Farb- u. Materialschicht ist ein Äquivalent zu einer sedimentierten Erfahrung. Erfahrungen, die sich aufeinander schichten, einander verdecken oder durchdringen, die absinken können oder wieder auftauchen können, die heraufgeholt oder wieder aufgekratzt werden, in der Suche nach dem, was schon zu sehr abgedeckt ist.

Dies kann zum einen metaphorisch verstanden werden: das künstlerische Verhalten ist dann ein Gleichnis für den innerpsychischen Prozess des Erlebens und der Erinnerungsarbeit, die ihre eigene Dynamik und Gesetzmäßigkeit haben. Zum anderen kann es aber auch ganz direkt als Arbeit an konkreten Erfahrungen und Erinnerungen gedeutet werden – vor allem da, wo die Bilder eine fassbare Gestalt, z.B. ein Kleid, eine Körper-Silhouette oder ein imaginäres Wesen zeigen.

Bei den Kleid-Bildern ist der biographische Bezug, der Bezug auf die Selbstwahrnehmung, besonders greifbar, die Auseinandersetzung mit Erfahrenem oder Erlittenem und zugleich die Selbstbehauptung im energisch gesetzten Bildzeichen. Hier kann die Künstlerin ihre sonstige ästhetische Behutsamkeit und Zurückhaltung bewusst aufgeben, um mit kräftigem Farbeinsatz und heftiger Kontrastwirkung zu arbeiten. Rot ist dann Blutrot und der Dunkel-grund ist Hinweis auf eine Erfahrung der Schattenseite der Existenz. Das Aufreißen und Aufkratzen der Farboberfläche ist kein vorsichtiges Freilegen der unteren Malschichten mehr, sondern eine gewollte Verletzung der Bildhaut.

Im Ensemble der Ausstellung bleiben diese unmittelbaren Selbstaussagen aber in ein Gesamt integriert, das eher zur Leichtigkeit und zur Ruhe strebt. Nicht soll der Betrachter bedrängt werden, eher zur ruhigen Betrachtung geleitet. Die abstrakten Bilder und naturas-soziativen imaginären Landschaften laden zu visuellen Exkursionen ein, die eine beleben-de, vielleicht kann man sogar sagen: therapeutische Wirkung haben – wie ein ausgedehnter Spaziergang im Freien. Man soll aufatmen können.